Mittwoch, 9. Juli 2014

DAS GLEICHNIS VON DEN BLINDEN UND DEM ELEFANTEN


Die buddhistische Tradition hat uns ein Gleichnis überliefert, das in humorvoller Weise die Subjektivität menschlicher Wahrnehmung und Meinungsbildung illustriert. 

(...)

Einstmals, Ihr Mönche, lebte einmal hier in Sāvatthī ein König. Der befahl einem Mann: 'Geh, lieber Mann, und wo du in Sāvatthī von Geburt Blinde findest, da laß sie alle an einem Platz zusammenkommen.' 'Jawohl, Majestät', antwortete der Mann dem König gehorsam, versammelte alle Blindgeborenen von Sāvatthī, begab sich zum König und meldete: 'Alle von Geburt Blinden aus Sāvatthī sind versammelt.' - 'Gut, dann laß den Blinden einen Elefanten vorführen.' - 'Jawohl, Majestät', sprach der Mann zum König und ließ den Blinden einen Elefanten vorführen: 'Das, ihr Blinden, ist ein Elefant.' Einigen der Blindgeborenen führte er den Kopf des Elefanten vor: 'Das ist ein Elefant, ihr Blinden', anderen ein Ohr: 'Das ist ein Elefant, ihr Blinden', anderen einen Stoßzahn: 'Das ist ein Elefant, ihr Blinden', anderen den Rüssel: 'Das ist ein Elefant, ihr Blinden', anderen den Rumpf: 'Das ist ein Elefant, ihr Blinden', anderen einen Fuß: 'Das ist ein Elefant, ihr Blinden', anderen das Hinterteil: 'Das ist ein Elefant, ihr Blinden', anderen den Schwanz: 'Das ist ein Elefant, ihr Blinden', anderen die Schwanzquaste: 'Das ist ein Elefant, ihr Blinden.'
Nachdem der Mann den Blindgeborenen den Elefanten vorgeführt hatte, ging er zum König und sprach zu ihm: 'Majestät: ich habe den Blindgeborenen den Elefanten vorgeführt; tu, was dir nun recht ist' Da begab sich der König zu den Blinden und sprach zu ihnen: 'Ihr habt einen Elefanten erlebt, ihr Blinden?' - 'So ist es, Majestät. Wir haben einen Elefanten erlebt.' - 'Nun sagt mir, ihr Blinden: Was ist denn ein Elefant?' Da antworteten die Blindgeborenen, die den Kopf zu fassen bekommen hatten: 'Ein Elefant, Majestät, ist wie ein Kessel'; die das Ohr zu fassen bekommen hatten, antworteten: 'Ein Elefant, Majestät, ist wie ein Worfelkorb' [102]; die einen Stoßzahn zu fassen bekommen hatten, antworteten: 'Ein Elefant, Majestät, ist wie der Stock eines Pfluges' [103]; ein anderer, der den Rüssel erwischt hatte, antwortete: 'Ein Elefant, Majestät, ist wie ein Pflugbaum'; ein anderer, der an den Rumpf gekommen war, antwortete: 'Ein Elefant, Majestät, ist wie eine Vorratstonne'; ein weiterer, der einen Fuß berührt hatte, antwortete: 'Ein Elefant, Majestät, ist wie ein Pfosten'; der nächste, der das Hinterteil betastet hatte, antwortete: 'Ein Elefant, Majestät, ist wie ein Mörser'; wieder einer, der an den Schwanz geraten war, antwortete: 'Ein Elefant, Majestät, ist wie der Stößel'; ein anderer, der die Schwanzquaste angefaßt hatte, antwortete: 'Ein Elefant, Majestät, ist wie ein Besen.' Und so prügelten sie aufeinander mit den Fäusten ein: 'So ist ein Elefant, nicht so! - Nein, so ist ein Elefant nicht; so ist er', und der König hatte seinen Spaß. 

Auszug aus: Ud.VI.4. ANGEHÖRIGE VERSCHIEDENER SCHULEN (1)
Zur Gänze nachzulesen auf: http://www.palikanon.com/khuddaka/udana/ud_6.htm

[102] flacher Korb, mit dem man Getreide gegen den Wind hochwarf, damit Hülsen und Spelze weggeweht wurden (in der hiesigen Landwirtschaft nahm man dafür eine besondere Schaufel)
[103] Der Ausdruck "Pflugschar" paßt hier nicht: Es dürfte sich um einen hölzernen Pflug (Hakenpflug) gehandelt haben, der nicht Schollen wenden konnte, wie eine Pflugschar, sondern den Boden nur mit einem an einem Stock befestigten Stein aufritzte.